Symptome als beziehungsgestaltende Fähigkeiten
Ein Blick auf Psychosomatik aus systemischer Sicht

Symptome aus systemischer Sicht
Aus der Perspektive der systemischen Therapie sind Symptome als beziehungsgestaltende Fähigkeiten zu betrachten. Sie übernehmen die Gestaltung von Beziehungen, wenn Betroffene dies im aktuellen Entwicklungsstadium nicht bewusst tun können. Das bedeutet, dass ein Symptom oft eine Art Lösung darstellt, die tiefere Konflikte innerhalb von Beziehungen widerspiegelt.
Symptome sind also nicht nur Leiden, sondern enthalten wichtige Informationen. Sie offenbaren Bedürfnisse sowohl der betroffenen Person als auch der Menschen, die in Beziehung zu ihr stehen. Insbesondere innerhalb der Familie zeigen sich Symptome oft an der sensibelsten Stelle und tragen relevante Informationen für das gesamte Beziehungsgeflecht.
Die „innere Familie“: Beziehungsmuster, die wir mit uns tragen
Auch nach dem Verlassen des Elternhauses tragen wir unsere erlernten Beziehungsmuster – unsere „innere Familie“ – weiterhin in uns. Diese Muster prägen, wie wir auf Beziehungskonflikte reagieren. Symptome können daher auch als Hinweise auf ungelöste Konflikte oder nicht erfüllte Bedürfnisse in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen verstanden werden.
Ein Familienmitglied, das Symptome zeigt, macht somit etwas sichtbar, das für die gesamte Familie von Bedeutung ist. Es könnte sich um unausgesprochene Wünsche oder unbewältigte Konflikte handeln, die in der aktuellen Beziehungsgestaltung fehlen oder unterdrückt werden.

Therapie als Übersetzungshilfe für Symptome
Symptome sind eine Art unbewusste Kommunikation. Wenn wir lernen, diese Kommunikation zu verstehen, können wir in unseren Beziehungen als „Dolmetscher“ fungieren. Das bedeutet, dass Therapie nicht nur das Ziel haben sollte, Symptome zu beseitigen. Stattdessen sollte sie den Betroffenen helfen, die Bedürfnisse hinter den Symptomen zu erkennen und die entsprechenden Beziehungsmuster zu verändern.
Therapie, die lediglich darauf abzielt, Symptome zu „heilen“, greift zu kurz. Denn oft liegt die Lösung nicht im Verschwinden des Symptoms, sondern im Verstehen der Botschaft, die es für die Beziehungsgestaltung enthält.
Ein praktisches Beispiel: Bulimie in der systemischen Psychosomatik
Um diese Konzepte greifbarer zu machen, betrachten wir ein konkretes Beispiel: Bulimie (Bulimia nervosa). Aus systemischer Sicht kann die Bulimie als eine kreative, wenn auch unbewusste Lösung innerhalb familiärer Beziehungskonflikte gesehen werden. Das Symptom gehört in diesem Sinne nicht nur der betroffenen Person, sondern allen Beteiligten. Es spiegelt die Beziehungen wider und zeigt auf, wie innere Spannungen und ungelöste Konflikte sich in einem Symptom äußern können.
Bulimie ist also nicht nur eine individuelle Erkrankung, sondern auch ein Hinweis darauf, wie Familienmitglieder miteinander umgehen. Die Auseinandersetzung mit dem Symptom eröffnet einen Raum, in dem neue Wege der Beziehungsgestaltung möglich werden.
Reflexion: Fragen zur Auseinandersetzung mit Symptomen
Um Symptome nicht mehr als lästiges Übel, sondern als beziehungsgestaltende Fähigkeiten zu begreifen, können folgende Fragen helfen:
• Wie gestalte ich meine Beziehungen, um mein Symptom zu erzeugen?
• Welchen Entwicklungsauftrag trägt mein Symptom in sich?
• Übernimmt mein Symptom die Verantwortung für meine Beziehungen?
• Fordere ich durch mein Symptom das ein, was in meinen Beziehungen fehlt?
• Sind mir meine Bedürfnisse für eine Veränderung in der Beziehung bewusst, aber erscheinen sie mir zu bedrohlich?
• Erlaube ich mir, zu benennen, was mir guttun würde, oder hindere ich mich daran?
• Welche Ängste blockieren meinen nächsten Entwicklungsschritt?
Mehr lesen
Rudolf, G., Grande, T., & von Rad, M. (2015). Psychosomatik in der Psychotherapie: Grundlagen und Praxis (5. Aufl.). Schattauer Verlag.
Willi, J. (2018). Die Zweierbeziehung: Das psychoanalytische Konzept der Kollusion und die systemische Perspektive. Springer-Verlag.
Galli, U., & Schmid, B. (Hrsg.). (2017). Systemische Therapie und Beratung: Grundlagen und Praxiswissen für die psychosoziale Arbeit. Beltz.

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